Schulterherein gegen den Nebel des Grauens
Von links: Eddy Willems, Kathrin Brunner-Schwer mit Graminho, Gonçalo
Oliveira mit Donizetti bei einer Vorführung in Neu-Anspach. Foto: Christiane Slawik
Von Kathrin Brunner-Schwer
Es war Ende der neunziger Jahre. Gonçalo Oliveira und ich hatten einen Auftritt bei der "Royal Horse Gala" im österreichischen Linz. Gonçalo Oliveira mit dem mausfalbenen Lusitanohengst Donizetti, der einmal seinem Großvater Nuno Oliveira gehört hatte. Ich auf meinem Vollblut-Araberhengst Graminho aus dem portugiesischen Nationalgestüt. Unser Pas-de-Deux saß, für uns kein Grund nervös zu sein. Wir hatten unsere Pferde zuvor in der kleinen Aufwärmhalle ein wenig gelockert, beide waren cool und ganz leicht in der Hand. Also warteten wir entspannt Seite an Seite auf unseren Pferden hinter dem riesigen Bühnenvorhang auf das Einsatzzeichen des Produktionsleiters. Wir hörten den Moderator sprechen und unsere Musik setzte ein. Dann öffnete sich der Vorhang ... und wir sahen ... nichts. In Bruchteilen von Sekunden waren wir vom beißenden Rauch einer Nebelmaschine umhüllt. Grelles blaues Licht von Scheinwerfern blendete uns schmerzhaft. Das weiße Zeug um uns herum war so dicht, dass wir nicht einmal mehr den Boden erkennen konnten – der Nebel des Grauens.
Genau so schnell wie mir die Augen zu tränen begannen verwandelte sich mein Graminho unter mir in einen soliden Betonklotz. Er schrie mich förmlich an: “Wenn du denkst, ich geh da jetzt raus, hast du dich geschnitten!”. Er fing an zu piaffieren und reagierte kein bißchen auf meine Aufforderung, doch bitte vorwärts zu gehen - “auf gar keinen Fall! Kannst alleine da rausgehen, ohne mich!”. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Gonçalo exakt dieselben Probleme mit Donizetti hatte. “Was ist das?” zischte Gonçalo – von Nebel und grellem Licht war weder bei den Proben noch sonst die Rede gewesen. Wir hatten keine Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir mussten da irgendwie rein, mehr als 3000 Zuschauer warteten auf das Pas-de-Deux. Das Intro unserer Musik sollte nur noch ein paar Sekunden laufen.
Gonçalo
und ich sprachen uns so schnell ab wie noch nie zuvor. Wir warfen den
Anfang der eingeübten Choreographie über den Haufen und richteten
die Pferde ins Schulterherein. Ganz dicht nebeneinander ritten wir in
Schulterherein im Nebel ungefähr dorthin, wo wir die Reitbahn
vermuteten.
Die ersten Meter war das Ganze noch eine reichlich verspannte Mischung aus Piaffe und Schulterherein – aber immerhin waren wir in dem Nebel auch kaum zu sehen. Hoffte ich. Erst ungefähr bei “X” lichtete sich die Sicht. Wir blieben nebeneinander auf der Mittellinie in Schulterherein, vier Schritte rechts herum, vier Schritte links herum, jeder eine Volte in Travers, dann wieder Schulterherein und so weiter. Als die Musik für die Trabsequenz wechselte, konnten wir im normalen Programm weitermachen – Donizetti und Graminho hatten losgelassen und konzentrierten sich. Was passiert war: die Produktion hatte sich kurzfristig entschieden, ihre nagelneue Nebelmaschine ausgerechnet bei unserem Pas-de-Deux einzusetzen. Doch irgend jemand hatte viel zuviel Nebelfluid zugeführt; das Gerät war explodiert.
Gerade in Ausnahmesituationen und einer ungewohnten Umgebung ist Losgelassenheit keine Selbstverständlichkeit. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man sich gerade auf einem gemütlichen Ausritt befindet („Oh nein! Ein Mähdrescher!“) oder bei einer Vorführung im Showring einer Pferdemesse mit extremem Lärmpegel, Kinderwagen mit rosa Schirmchen und wuselnden Menschen. Losgelassenheit ist das Resultat korrekter Arbeit. Und die wiederum basiert auf Vertrauen. Denn: unter Zwang funktioniert das nicht, jedenfalls nicht verlässlich.
Eine der beiden wichtigsten Übungen in der Kategorie "Hör auf mich, bleib bei mir" ist das Schulterherein. Es mag mittlerweile abgedroschen klingen – aber der Satz „das Schulterherein ist das Aspirin des Pferdes“ ist einfach wahr. Vielleicht sollte man ihn etwas moderner fassen: „Das Schulterherein ist das Ritalin des Pferdes“ (Ritalin ist ein Medikament, das bei ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung beim Menschen eingesetzt wird). Schulterherein ist das Top-Mittel bei Konzentrationsstörungen. Es wirkt sofort unter anderem auf Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sowie auf das Kreuzbein und damit die Hinterhand. Es veranlasst das Pferd dazu, die Bauchmuskulatur anzuspannen und den Rücken nach oben zu wölben sowie Gewicht auf die Hinterhand aufzunehmen. Das Pferd findet zurück zur Konzentration. Es wird ruhig und lässt los. Erst kürzlich wieder beklagte sich eine Reiterin bei mir über ihr Pferd, das beim Ausreiten nie an einer bestimmten Stelle des Zauns vom benachbarten Bauern vorbei gehen würde. Jedes Mal müsse sie absteigen und ihr tänzelndes Pferd daran vorbei führen. Ich riet ihr zu Schulterherein, ein paar Schritte rechts, ein paar Schritte links herum – schon bevor sie zu der Stelle kam. Zwei Wochen später rief sie mich an: Sie könne ihr Pferd nun am langen Zügel am Zaun vorbei reiten...
Fazit: Schulterherein beruhigt, entspannt und gymnastiziert. Es fördert die Logelassenheit und hilft im Übrigen auch dabei, das Pferd gerade zu richten.