Foto: Ilona Kirsch
Mein Weg zu Nuno Oliveira
Von Kathrin Brunner-Schwer
Da war
er. Dieser Moment. Die Erkenntnis. Das Verstehen. Und über allem:
dieses Gefühl, in erster Linie ein ungeheures Glücksgefühl. Mein
Pferd, das ich Nuno Oliveiras Sohn João
Oliveira ein paar Monate zuvor abgekauft hatte und mit dem ich so gar
nicht zurechtgekommen war – mein Pferd, dieses einzigartige von
Oliveira geformte Wesen … es gab nach, es wurde leicht, der Rücken
wölbte sich und ich fühlte, wie der Hengst sich willig auf seine
Hinterhand setzte. Dabei war das „nur“ eine Schulterherein. Aber
was für eine. Endlich verstand ich: Schulterherein ist nicht „nur“
Schulterherein. Es ist ein ganzes Universum, aus dem heraus der
reiterliche Weg zu den Sternen führt. Und mit „Sternen“ meine
ich nicht die höchsten Lektionen, Piaffe, Passage oder fliegende
Wechsel. Ich meine dieses enorme Glücksgefühl, wenn das Pferd mit
Leichtigkeit einwilligt. Selbst bei einer einfachen Volte. Wenn die
vollkommene Einheit herrscht zwischen Pferd und Reiter. Und wenn es
stolz dabei ist. Ja, Pferde können stolz sein auf ihre Arbeit. Die
Suche nach diesem zufriedenen Stolz in jedem Pferd stand immer im
Mittelpunkt von Nuno Oliveiras Arbeit. Ich habe diese Suche auch zu meiner gemacht.
Noch in derselben Nacht rekapitulierte ich alle Hilfen und das „Wie“ beim Einschlafen, damit ich ja nichts vergaß. Das Pferd damals: Donizetti, ein wunderbar hypersensibler Mausfalbe, das letzte junge Pferd, das Nuno Oliveira noch kurz vor seinem viel zu frühen Tod 1989 gekauft hatte. João Oliveira hatte ihn ausgebildet. Meine Lehrerin damals: Sue Oliveira, Schwiegertochter, langjährige Schülerin und rechte Hand des portugiesischen Reitmeisters. Meine beste Reitlehrerin. Und enge Freundin.
Alles habe ich Nuno Oliveira zu verdanken
Alles, was ich heute weiß, was ich sehe und verstehe im Umgang mit Pferden, beim Reiten – alles habe ich Nuno Oliveira zu verdanken. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt. Ich habe auch nicht den akademischen Blick, mit dem viele seiner Zeitgenossen und Freunde seine Arbeit analysierten. Aber ich hatte das Glück, in seine Familie aufgenommen zu werden. Und mir über all die Jahre, dank der vielen Menschen, die ihn kannten und mit ihm über kurze oder lange Zeiträume zusammengearbeitet, sich ausgetauscht haben, ein Bild von ihm zu machen, das sich immer wieder bestätigte, wenn ich selbst diesen Menschen begegnete. Darunter waren Fredy Knie Senior, Dr. Reiner Klimke, Luis Valença, Sue Oliveira, João Oliveira, Gonçalo Oliveira – um hier nur einige wenige zu nennen.
Nuno Oliveira war ein Getriebener. Besessen. Darin waren sich alle einig, die ihn kannten. Es gab kein „Oliveira-System“ betonte er seinen Zeitgenossen gegenüber immer wieder. Er zog das für ihn Beste und Plausibelste aus sämtlichen bekannten und weniger bekannten Lehren der klassischen Reitmeister und etablierte seine Prinzipien, die man eben auf folgenden Nenner bringen kann: „Mit dem Pferd und nicht gegen das Pferd“. Sue Oliveira und Luis Valença haben es mir so erklärt: Er wollte das Pferd aus dem starren Korsett der klassischen Lehre befreien und es in seiner natürlichen Anmut zeigen, mit so wenig Zwang und Einwirkung wie möglich. Man sollte den Reiter auf dem Pferd vergessen.
Die Suche
Am Anfang stand bei mir, wie bei so vielen Reitern, die Suche. Mit sechs Jahren durfte ich reiten lernen. Ich fühle noch heute die Fünf-Mark-Stücke an der Innenseite meiner Knie. Mein Großvater, ein ehemaliger Kavallerie-Offizier, hatte sie dort oft platziert: „Du musst die Knie dran haben!“ Wehe, die Münzen fielen auf den Boden. Dann der übliche Leidensweg durch die Reitschulen. Jahrelanges Abteilungsreiten auf steinharten Pferden „im Arbeitstempo Teeerapp.“ Anfang 30 mein erstes eigenes Pferd, aber bitte nur im Gelände, von Reithallen hatte ich die Nase voll. Wie auch von Grand Prix- oder Olympia-Übertragungen im Fernsehen. Oder den „Trainingseinheiten“ der örtlichen Turnierreiter auf den Plätzen der Reitvereine. Schrecklich. Hätte man denen mit einer Schere die Zügel durchgeschnitten, wären sie prompt nach hinten gekippt. Es musste noch etwas anderes geben.
Anfang
der 90er Jahre machte ich in Frankreich die Bekanntschaft mit Alain
Pfister. Er war damals ein Schüler von João Oliveira und hatte im
benachbarten Elsass, wo mein Pferd stand, einige Kurse mit ihm
organisiert. Zu der Zeit hatte ich die Lusitanos entdeckt und
hobbymäßig eine kleine Zucht begonnen; Lusitanos waren in
Frankreich damals weit populärer als in Deutschland. Ich hatte
gerade einen Hengst gekauft, mit dem ich reiterlich, na ja, halbwegs
zurechtkam. Dachte ich. Pfister, der zusammen mit João gerade an der
Neuausgabe von Nuno Oliveiras Büchern arbeitete überredete mich,
an einem Kurs mit João teilzunehmen. Es wurde mein privates Waterloo. Der 3-Tage-Kurs war
bitter für mich und das Ergebnis jahrelanger Desensibilisierung in
deutschen Reitschulen. Doch trotz Frust, Tränen und ganz
viel Nichtverstehen hatte es João bei mir geschafft: Ich wollte
unbedingt „my fathers way“ lernen, wie João es nannte. Mit
dem Pferd und nicht gegen
das Pferd zu arbeiten war bis dahin in meinem hirngewaschenen
Reitschul-Kodex nicht vorgekommen.
Als Vermittler von „his grandfathers way“ hatte Gonçalo Oliveira, Joãos Sohn, die Kurse seines Vaters im Elsass übernommen. Er war offen, er konnte erklären und kam in regelmäßigen Abständen aus Portugal nach Frankreich. Nach dem Tod Nuno Oliveiras am 2. Februar 1989 betrieb Gonçalo die Reitanlage seines Großvaters, die legendäre Quinta do Brejo in Avessada, 40 Kilometer nördlich von Lissabon, so gut es ging. Er gab Unterricht und arbeitete Berittpferde. Ich schickte ihm meinen Lusitanohengst zur weiteren Ausbildung und flog alle paar Wochen nach Portugal, um ihn und mein Pferd zu besuchen.
In dieser legendären Reithalle, in der Menschen von allen Kontinenten bei Nuno Oliveira einst Unterricht nahmen, ritt ich zum ersten Mal ein echtes Oliveira-Pferd: Xairel, eines seiner Schulpferde, das Gonçalo in seiner Obhut hatte. Ich brachte auf ihm nicht mal einen Zirkel zustande, von einer Volte ganz zu schweigen. Xairel lief unbeirrt geradeaus, wenn ich nach dem mir eingetrichterten Muster ordentlich am inneren Zügel zog. Noch nie hatte ein Mensch einen größeren Kloß im Hals wie ich damals, als ich nach dieser Lektion wieder absaß. Eine Lektion, wie sie nur ein Pferd einem Reiter geben kann.
Den
intensivsten und erstaunlichsten Einblick in Nuno Oliveiras Welt hat
mir Sue Oliveira geschenkt. Von 1974 bis zu seinem Tod 1989 war die
gebürtige Engländerin Nuno Oliveiras rechte Hand, Schülerin und Assistentin
gewesen. Sie heiratete Nunos zweiten Sohn Miguel. Bis
zu ihrem Tod am 11. September 2007 lebte sie mit ihrer Familie in
Belgien und gab Kurse in ganz Europa. Und viele Jahre auch auf meiner
eigenen Reitanlage "ars lusitana" in der Nähe von Baden-Baden. Gonçalo war mittlerweile aus Portugal zu mir gezogen und es entstand eine
tiefe Freundschaft zwischen Sue und mir. Ich erinnere mich an
nächtelange Gespräche, eine Unmenge von Geschichten aus ihrer Zeit
auf der Quinta do Brejo und vor allem an ihren Unterricht. Mit ihrer
englisch-pragmatischen Art zu erklären (von ihrem trockenen Humor
ganz zu schweigen) vermittelte sie die akademisch überlieferten Prinzipien ihres Schwiegervaters derart brillant,
dass alle am Ende eines Sue-Kurses dem nächsten entgegen
fieberten.
Sue erzählte mir die folgende Geschichte: Euclides, eines von Nuno Oliveiras Lieblingspferden, war in die Schweiz verkauft worden. Als der neue Besitzer und langjährige Schüler Oliveiras ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr reiten konnte, schickte er Euclides wieder nach Portugal zurück, wo er auf dem Gestüt, von dem er stammte, als Deckhengst eingesetzt werden sollte. Es war Ende der sechziger Jahre. Euclides lahmte stark bei seiner Ankunft und hustete schwer, er sollte sich ein paar Tage auf der Quinta do Brejo erholen. Vor seinem endgültigen Abschied von ihm ließ ihn Oliveira ein letztes Mal satteln und legte seine Lieblingsplatte auf. In dem Moment, als es die Reithalle betrat, verwandelte sich das Pferd vollkommen. Euclides lahmte und hustete kein einziges Mal. Der Hengst zeigte alles, was er konnte mit derart viel Freude und Temperament, dass den anwesenden Zuschauern die Tränen in die Augen stiegen, Nuno Oliveira ebenso. Beim Verlassen der Reithalle … lahmte und hustete Euclides wie zuvor.
Wie viele Pferde würden so etwas für ihre Reiter tun?