Vom Klemmen, dem Zitronenkern und der Pferdehaltung
Von Kathrin Brunner-Schwer
„Wenn man zu Pferd nicht spürt, ob es an diesem Tag entspannter oder steifer ist, wenn man nicht weiß, woher diese Steifheit kommt, wird das Reiten nicht als Kunst ausgeübt. Es hat keinerlei Zweck, ein Pferd zu dieser oder jener Bewegung zu zwingen. Völlig wertlos“.So schreibt Nuno Oliveira in „Erinnerungen eines portugiesischen Reiters“ (Olms Presse 2000). Kurz: Wenn's klemmt, ist der Mensch schuld.
Verspannungen beim Pferd sind in der Regel hausgemacht. Sie sind das Resultat verschiedener Faktoren, die allein der Mensch zu verantworten hat: Falsche Hilfengebung, falscher Sitz, miese Haltungsbedingungen und so weiter. Doch bevor man darüber nachdenken muss, steht über allem die Frage: Ist mein Pferd gesund? Will heißen: Ist physiologisch alles in Ordnung? Sind die Zähne in Ordnung? Hat mein Pferd irgendwo eine Blockade? Passt der Sattel? Ist das verwendete Gebiß und die Zäumung geeignet? Ist die Muskulatur ausreichend mit Spurenelementen versorgt? Ist der Beschlag beziehungsweise sind die ausgeschnittenen Hufe in Ordnung? Und dann die nächste Frage: Ist bei mir alles in Ordnung? Habe ich womöglich eine Fehlstellung? Einen blockierten Wirbel oder eine verkrampfte Muskelpartie in den Schultern zum Beispiel oder im Bereich der Lende?
Denn bevor das alles nicht eindeutig geklärt ist, brauchen wir nicht einmal ansatzmäßig darüber nachzudenken, warum mein Pferd „klemmt“.
Verspannung beim Pferd bis hin zu dem Gefühl des Reiters, er säße auf einem Pulverfass und könne jeden Moment die Kontrolle über sein Pferd verlieren, ist meistens ein Ausdruck von Stress, Angst, Unbehagen. In der Natur reagiert das Pferd mit Flucht. Dabei werden große Mengen Adrenalin und andere Hormone ausgeschüttet. Die Leistung, die das Pferd dabei zeigt, ist enorm, immerhin will es sein Leben retten. Ein Reiter kann dieser Situation etwas entgegen setzen und den ungeheuren Anstieg von Energie kanalisieren – mit Entspannungsübungen, die Konzentration und Balance (auch die innere) zurückbringen und fördern.
Reiterlich sind Verspannungen immer über den Schwung lösbar. Vorausgesetzt, das Pferd ist gerade. Denn ohne ein gerades Pferd gibt es keinen Schwung. Und ohne Schwung kein gerades Pferd. Schwung ist das Fundament, auf dem alles aufbaut, er kommt aus der Hinterhand: Wenn die Tritte kraftvoller werden, können die Hinterbeine vermehrt Gewichtaufnehmen; die Schubkraft erhöht sich, das Pferd kann sich leichter ausbalancieren. Die Energie, die das Pferd durch einen erhöhten Schwung entwickelt, macht alles einfacher: Sie führt zu mehr Spannkraft und zwar sowohl im Schritt als auch im Trab und im Galopp. Diese Energie hilft, das Pferd gerade zu richten, sie löst Verspannungen im Pferdekörper und wirkt sich positiv auf Verhaltensprobleme aus. Denn ein schöner Schwung und der damit verbundene Energiefluss ist angenehm für das Pferd. Es beruhigt sich und bekommt Freude an der Bewegung.
Schwung heißt aber nicht Geschwindigkeit. Hier liegt oft der große Fehler. Vermehrt zu treiben um mehr Schwung zu bekommen bewirkt das Gegenteil: Die Tritte werden flacher, das Pferd wird steif, „klemmt“ noch mehr, es strampelt, fällt auf die Vorhand und wechselt im schlimmsten Fall in die nächst höhere Gangart, aus der es dann wieder herunter gebremst werden muss – ein Teufelskreis.
Hier kommt die Kadenz ins Spiel, sie reguliert den Schwung. Sie ist der mit Energie geladene, kraftvolle Takt, der dem Pferd Ausdruck verleiht und die Schwebephasen beeinflusst. Ein Pferd mit einer guten Kadenz wird bei der Aufforderung, mehr Schwung zu zeigen, nicht schneller werden. Deshalb gehören Schwung und Kadenz zusammen. Die Hilfen sollten nur Impulse sein: Ein Impuls, auf den der Einsatz des Pferdes folgt. Das Pferd ständig mit Hilfen „zuzuquatschen“ bewirkt, dass es nicht mehr auf seinen Reiter hört. Und das geht schneller, als es einem lieb ist. Je besser ein Pferd auf die Hilfen reagiert, umso größer wird sein Schwung. „Wenn Sie fühlen, dass Ihr Pferd energielos tritt, fragen Sie mit einem kurzen Schenkelimpuls nach zwei oder drei Tritten vermehrter Energie – um es dann sofort mit dem Sitz und nicht mit den Zügeln (!) abzubremsen“, sagt Luis Valença, Portugals großer Reitmeister. Anders erklärt: Man braucht nur zwei oder drei Schritte im selben Gang, im selben Rhythmus, Tempo und Richtung, um die verlorene Energie wieder herzustellen.
Probieren Sie es aus, wenn Ihr Pferd mal wieder „klemmig“ erscheint, sich auf die Zügel legt oder den Rücken durch drückt. Fragen Sie nach zwei oder drei Schritten vermehrter Energie. Sie werden merken, wie Ihr Pferd darüber denkt; denn Sie bereiten ihm Freude an der eigenen Bewegung.
Was aber nützen die besten Tipps, Tricks und Übungen einem Pferd, wenn der Reiter nicht merkt, wo es „hakt“? Und vor allem, warum es „hakt“? Nichts. „Wenn die Beine angespannt sind und die Flanken des Pferdes umklammern, unterdrücken sie die Schwungkraft, anstatt sie zu vermitteln“, schreibt Nuno Oliveira. Klammernde Beine verspannen außerdem Rücken und Taille des Reiters. Das Pferd verhält sich entweder noch mehr oder es reagiert wie der Zitronenkern: Wenn man mit dem Finger Druck auf den glitschigen Kern ausübt, schießt er in irgendeine Richtung davon.„Entspannter Reiter – entspanntes Pferd“ wäre also die Idealformel. Leider ist es nicht so einfach. Und damit komme ich zu einem Umstand, der in meinen Augen den größten Anteil hat am Zerrbild des verspannten, „klemmigen“ Pferdes: die Pferdehaltung. Es ist Ende März hier in Südwestdeutschland und vor einigen Tagen fuhr ich auf Bitte einer älteren Dame, die mich um Hilfe bei ihrem P.R.E.-Wallach gebeten hatte, zu einem mir bislang unbekannten Stall. Der Besitzer: ein ehemals renommierter Springreiter der lokalen Szene. Ich betrete die lange Stallgasse und sehe Depression pur: In voll vergitterten Boxen drei auf drei Meter ohne Fenster stehen etwa 20 Pferde, bei 19 Grad Außentemperatur (!) teilweise eingedeckt. Zwei Pferde webten, zwei schliffen ihre Zähne unablässig an den Gittern hoch und runter, eines bleckte mit angelegten Ohren nach jedem, der an ihm vorbei ging, der Rest dämmerte stumpf vor sich hin. Draußen streckten sich die Koppeln, soweit das Auge reicht. Nur: es war Ende März, und die Koppeln waren noch nicht „geöffnet“. Nicht so schlimm, wurde mir gesagt, jedes Pferd komme in der Winterzeit täglich 20 Minuten in die Führmaschine. Winterkoppeln? Geht nicht, ist zu viel Arbeit, wurde mir gesagt.
Eine Menge Studien und Untersuchungen haben mittlerweile belegt, dass ein frei laufendes Pferd (wenn es die Möglichkeit hat), gut 30 Kilometer am Tag zurück legt. Ein Pferd in der Box dagegen bringt es in der Regel gerade mal auf 185 Meter pro Tag. Unter diesen Bedingungen verlangen wir von unseren Pferden, bloß nicht zu „klemmen“? Weil es besser ins Zeitmanagement passt? Weil man das Pferd nicht zeitraubend von der Koppel holen und putzen muss? Woher bitte, so frage ich mich, nehmen wir diese Anmaßung? Weil wir unseren Pferden ja diese eine Stunde Bewegung/“Arbeit“ am Tag ohnehin gönnen? „Kontrollierte Bewegung kann freie Bewegung nicht vollständig ersetzen“ schreibt das Konsortium der Tierärztlichen Vereinigung in seinem Positionspapier zu den Leitlinien „Tierschutz im Pferdesport“ (siehe unten).
In unserem industrialisierten Umfeld können wir unsere Pferde nicht artgerecht halten. Aber wir können ihnen das Leben zumindest etwas bedarfsgerechter gestalten. Sicher, es findet mittlerweile ein Umdenken statt und ich sehe mehr und mehr Ställe, in denen die Pferde wenigstens ein Paddock bekommen und es auch (allerdings viel zu selten) mal „Winterkoppeln“ gibt. Es ist aber immer noch die Ausnahme von der Regel. Eine Regel, hinter der sich im Übrigen auch viele Stallbesitzer verstecken. „Das haben wir schon immer so gemacht“, heißt es. Doch „das schon immer“ ist Tierquälerei. Es ist tierschutzrelevant. Eine solche Pferdehaltung hat in unserer heutigen Zeit nichts mehr zu suchen. Punkt.
Unter naturnahen Bedingungen bewegen sich Pferde im
Sozialverband bis zu 16 Stunden täglich. Dabei handelt
es sich überwiegend um langsame Bewegung (Schritt)
verbunden mit Futteraufnahme. Pferde haben somit einen
Bedarf an täglich mehrstündiger Bewegung. Mangelnde
Bewegung kann ebenso wie eine unsachgemäße
Beanspruchung
bei der Nutzung die Ursache für
Verhaltensstörungen sein und bedingt Schäden, insbesondere
am
Bewegungsapparat. Kontrollierte Bewegung
(Arbeit, Training)
beinhaltet nicht die gleichen
Bewegungsabläufe wie die freie
Bewegung,
bei der die Fortbewegung im entspannten Schritt überwiegt
aber auch überschüssige Energie und Verspannungen
abgebaut werden
können. Daher kann kontrollierte Bewegung
die freie Bewegung nicht
vollständig ersetzen.
Allen Pferden muss daher sooft wie möglich
Weidegang
und/oder Auslauf angeboten werden.
Aus dem Positionspapier zu den „Leitlinien Tierschutz im Pferdesport“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft, verfasst von der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz, Arbeitskreis 11 – Pferde, Stand 1.11.2014